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Die neue Psychologie des Alterns – Überraschende Erkenntnisse über unsere längste Lebensphase von Hans-Werner Wahl

Das Alter ist in der öffentlichen Wahrnehmung eher problematisch, Stichwort Altersarmut und auch in Bezug auf die altersspezifischen Krankheiten wie Alzheimer und Demenz. Die Kernaussage dieses Buches in einem Satz: Ein vernünftiges und gesundes Leben ist die beste Altersvorsorge. Oder anders herum, im Alter zeigt sich, was man im Leben falsch gemacht hat oder wozu man im Leben keine Chance hatte. Faire Bedingungen im Erwerbsleben wären beispielsweise die beste Möglichkeit, um Altersarmut zu verhindern. Und auch die genannten Alterskrankheiten werden zumindest teilweise durch die Lebensführung in jungen und mittleren Jahren begünstigt oder eher unwahrscheinlich gemacht. Altersvorsorge bedeutet heute eben nicht nur, für eine ausreichende Rente zu sorgen, sondern auch auf den Körper zu achten, sowie sich geistig und sozial zu fordern. Dass es im Alter mehr oder weniger schnell bergab geht, lässt sich nicht verhindern, aber man kann beeinflussen, aus welcher Höhe man und mit welchem Tempo man ins Tal gelangt. Um im Bild zu bleiben, auch der Abstieg hat seine Reize und Risiken.
Das Buch ist nicht in erster Linie ein Ratgeber, sondern wie der Titel erkennen lässt, ein populär-wissenschaftlicher Überblick über die neue Psychologie des Alterns. Die Notwendigkeit zu einer neuen Psychologie des Alterns liegt natürlich in der Tatsache, dass wir generell älter werden und es damit auch immer mehr alte Menschen gibt. Man kann davon ausgehen, dass dieser Trend anhält. Und dann werden bald keine Kurse wie „Internet für Senioren“ mehr notwendig sein, weil auch die älteren Menschen ein Leben mit dem Internet hinter sich haben. Das heißt, auch die Lebensbedingungen des Alterns werden technischer und digitaler. Auch wenn das Buch, wie gesagt, kein Ratgeber ist, kann man durch die Lektüre durchaus Einsichten darüber gewinnen, wie man die längste Lebensphase genießen kann. Deshalb kann man dieses Buch auch und gerade jungen Menschen empfehlen.

Lucia Berlin: A Manual for Cleaning Women, London (UK) 2016

“The ride from city jail goes along top of the hills above the bay. The avenue is lined with trees and that last morning it was foggy, like an old Chinese painting. Just the sound of the tires and the wipers. Our leg chains made the sound of oriental instruments and the prisoners in orange jumpsuits swayed like Tibetan monks” (Here it is Saturday, S. 363).

Dieser Anfang einer der insgesamt 43 Geschichten (plus „Foreword“, „Introduction by Stephen Emerson“ und „A Note on Lucia Berlin“) ist einerseits typisch und andererseits untypisch. Untypisch, weil Lucia Berlin hier aus einer männlichen Perspektive schreibt, ansonsten fast ausschließlich aus einer weiblichen in der ersten Person, deren Erlebnisse und Erfahrungen sehr dicht an denen der Autorin sein dürften. Typisch ist dagegen ihr Stil, ihre Lakonie, ihr überraschendes und ironisches Arrangement der Bilder: Die Fußketten der Sträflinge klingen wie orientalische Instrumente, und die Knackis sehen in ihren orangenen Overalls wie tibetanische Mönche aus.

Damit sind wir bei den wesentlichen Elementen der Berlinschen Erzählkunst, die sich zum einen auf ihre bewegte Biografie stützt, zum anderen auf eine Sprache, die so frisch, überraschend, wie faszinierend, und immer wieder mit genialen Formulierungen daherkommt. Zur Biografie: 1936 in Alaska geboren (sie starb 2004), ihr Vater war im Bergbau tätig und viel unterwegs (mit Familie), zeitweise auch in Südamerika. In ihrer Familie gab es eine Neigung zum Alkoholismus; sie selbst war auch lange Jahre abhängig. Viele ihrer Geschichten handeln davon: Trinken, Abstürze, Entzug usw. In solchen Storys klingt sie dann schon mal nach Bukowski. Sie war drei Mal verheiratet und hatte vier Kinder. Sie hatte von Jugend an ein schweres Rückenleiden und war häufig in ein Korsett gezwängt, häufig Außenseiterin in den Schulen und in Colleges, in denen sie meist nur kurz blieb. Aber auf den Fotos und Videos kann man auch sehen, dass sie eine schöne Frau war. Eine schöne Frau, die das Leben zu genießen wusste.

In manchen ihrer Geschichten erinnert sie mich an Hemingway und seine Nick Adam Storys. "Without any teeth, his face was like a skull, white bones above the vivid bloody throat. Scary monster, a teapot come alive, yellow and black Lipton tags dangling like parade decorations.” (Dr. H.A. Moynihan, S. 14 f) Hier schildert die Ich-Erzählerin, wie sie ihrem Großvater, der Zahnarzt ist, die Zähne zieht, nur mit Whiskey als Betäubungsmittel. Der Großvater zwingt sie dazu, und das Ganze ist ein abstruses Martyrium für beide in Blut, Alkohol, Schweiß, Urin und Tränen.

Wenn man bedenkt, dass sie in den 1960er Jahren zu schreiben und später zu veröffentlichen begann, (Buch-Veröffentlichungen erfolgten in den 1990ern), muss man sich auch über ihre, für amerikanische Verhältnisse freizügige Sprache wundern: „Oh God, well, and I didn’t know, either, so I asked her if I could get pregnant if I swallowed Cletis’s come“ (Tiger Bites, S. 71).

Lucia Berlin wird derzeit wiederentdeckt und das zu Recht, ihre Erzählungen sind grandios, unverwechselbar und eröffnen uns eine literarische Welt, die wir so noch nicht gekannt haben.
Auf Deutsch ist in diesem Jahr erschienen: Was ich sonst noch verpasst habe, Zürich 2016

Der neue Don DeLillo: Zero K (Besprechung in Englisch)

„Why not follow our words bodily into the future tense?“

This quote from DeLillos new novel perfectly summarizes its plot and philosophical topics. There is a facility somewhere (Ukraine, Uzbekistan, Mongolia?) where people’s bodies are prepared for resurrection in some future tense. Be this science-fiction or hidden presence, it’s very strange, maybe frightening, outlandish: ““Do you speak the language spoken here?” – “My entire body rejects it.” – This was encouraging.”
The two main characters, father and son, go there twice to witness and suffer the final procedure. But it’s DeLillo’s really fascinating way of telling the story that makes it so completely different. A first person perspective but in a way more detached than any third person narrative could be. And still feels like some universal narrator, just a human voice trying to handle the last questions of life and death: “Had I ever thought of the human body and what a spectacle it is, the elemental force of it, my father’s body, stripped of everything that might mark it as an individual life.”
A most wonderful and fulfilling read!

Zwei neue Romane von TC Boyle:

San Miguel:
TC Boyle gehört zu meinen BIG 5: Auster, Boyle, DeLillo, Pynchon und Roth. Was Boyle von den anderen unterscheidet, ist nicht zuletzt die Tatsache, dass er in seinen Themen und Erzählweisen der mit Abstand Vielfältigste ist, was sich auch an dem Roman "San Miguel" zeigt.
Eine Geschichte, bzw. zwei Geschichten von zwei Paaren, die um die Jahrhundertwende (Ende 19. bis Anfang 20. Jhd.) auf der Insel versuchen, von der Schafzucht zu leben, was, Kalifornien hin und Kalifornien her, überhaupt nicht einfach ist. Das wirklich Faszierende ist, dass diese Geschichte, die so leicht in Kitsch ("Tortilla Curtain" ist ganz nah dran) oder amerikanischen Blut und Boden Heros hätte abgleiten können, so glaubhaft und unaufgeregt daherkommt: Großes Kino – würde man heute sagen – aber die Verfilmung wäre vergleichsweise langweilig. In manchen Aspekten erinnert mich der Roman an Knut Hamsuns "Segen der Erde".
Zurück zu den Besonderheiten Boyles. Historische Figuren, wie die beiden Familien auf San Miguel, bevölkern seine Romane: McCormick, Kellogg, Frank Lloyd Wright, Dr. Kinsey u.a. Wer San Miguel als Einstiegsroman wählt, hat keine schlechte Wahl getroffen, sollte sich aber bewusst darüber sein, dass TC Boyle auch ganz anders kann. Mein erster Boyle war "Water Music": Grandios!

Der Ausgangskonflikt der Handlung in Boyles "When the Killing’s Done" ist ein geradezu klassisch tragischer: Wie immer sich die Protagonisten verhalten, sie machen sich schuldig. In der griechischen Tragödie muss der Held diese Schuld alleine auf sich nehmen, bei Boyle wird die Schuld auf zwei Schultern verteilt, auf die der Heldin Alma und die des Helden Dave nämlich.

Die tragische Ausgangssituation und der Konflikt haben ihren Ursprung im menschlichen Eingriff in die Natur, hier zwei Inseln vor der kalifornischen Küste, Anacapa und Santa Cruz. Auf der kleineren Insel sind es die Ratten, die das ursprüngliche Gleichgewicht durcheinander gebracht haben, auf der größeren sind es Schweine. Alma nimmt die Position ein, Ratten und Schweine auszurotten, um so das Gleichgewicht wiederherzustellen und das Überleben der Lebewesen, die durch die vom Menschen angesiedelten Eindringlinge in ihrer Existenz gefährdet sind, zu gewährleisten. Dave dagegen will der Natur, so wie sie derzeit ist, einfach ihren freien Lauf lassen. Wer immer von beiden sich durchsetzt, siegt, lädt auch Schuld auf sich. Alma das Ausrotten der Ratten und Schweine, Dave das Aussterben der ursprünglichen Tiere und Pflanzen durch die Neuankömmlinge.

Handwerklich brillant ist es, wie Boyle den beiden Hauptfiguren eine schlüssige, gewissermaßen evolutionäre Entwicklung, eine Vor- und Familiengeschichte verpasst, so dass die Haltung der beiden Antagonisten in sich schon wieder konsequent natürlich und unausweichlich ist. Boyle erzählt auktorial, nimmt aber eindeutig die Perspektive der jeweiligen Personen ein, mit unterschiedlichen Einfärbungen, was er besonders über seine Metaphorik erreicht, die konsequent auf die Wahrnehmung der Figuren abgestimmt ist. Was sich auch an den Namen ablesen lässt, die in vielen Fällen sprechende Namen sind mit stark ironischen Konnotationen: Alma Takesue und Dave LaJoy beispielsweise. "Alma" kennt man von "alma mater", die Bezeichnung für Universitäten und wörtlich "nährende Mutter"; "sue" heißt "vor Gericht klagen" und "joy" "die Freude", noch dazu mit französischem Artikel "la". Bei einem gemeinsamen Essen der beiden bei Almas Lieblingsitaliener lässt LaJoy mehrere hundert Dollar teure Weine an den Tisch bringen und als nicht annehmbar zurückgehen. Auf einer Fahrt zu einem wichtigen Treffen der Naturschützer überfährt Alma ein Eichhörnchen; jedes Detail, jede noch so winzige Einzelheit ist wohlkalkuliert.

Ich glaube nicht, dass man diesen Stoff auf irgendeine Art und Weise besser konstruieren und durchkomponieren könnte. Im Gegenteil, vielleicht liegt gerade darin ein möglicher Schwachpunkt, indem die Fiktion zu glatt, geradezu perfekt ausgearbeitet ist und somit den Schuss Widerspruch und Chaos vermissen lässt, der jedem genialen Streich anhaftet

Die beiden Romane sind auch ein schönes Beispiel dafür, wie ökonomisch Boyle mit Recherche-Ergebnissen umgeht. Aus eins mach zwei, gewissermaßen.

Die Links zu When the Killing's Done und San Miguel.

© by Klaus-Dieter Regenbrecht, Koblenz im dezember 2012

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