| Workshop
                AmoRLauf: Ein Einblick in die Romanwerkstatt
 (Dies ist als eine Art blog gedacht, wer also einen Kommentar dazu
                abgeben möchte, mag mir eine Mail schicken ;-)
 In
                Times gesetzte Passagen sind Kommentierung, Arial sind Tagebucheintragungen, Arial
                hellblau Textzitate aus
                dem Manuskript (MS)
 Teil
                  1: Die Anfänge Jeder
                  Roman hat seine eigene Entstehungsgeschichte. Es gibt Autoren, die sich an
                  aktuellen Themen orientieren, die sie z. B. für marktfähig halten, dazu
                  dann geeignete Protagonisten und Antagonisten entwickeln, das Thema in
                  einer Exposition präsentieren, die Geschichte über die verschiedenen
                  Komplikationen, Krisen und Katastrophen ihrem Höhepunkt zutreiben und sie
                  schließlich happy oder nicht happy auflösen.  Zu
                  diesen Autoren gehöre ich nicht. Ich gehöre zu denen, die von ihren
                  Themen, Motiven heimgesucht werden. Ich gehöre damit eher zu jenen, bei
                  denen die Geschichte ihren Autor findet und sich in und mit ihm entwickelt. Die Entstehungszeit kann ebenso
                  sehr stark variieren. Bei dem zuletzt veröffentlichten Roman „Transit
                  Wirklichkeit“ sind es fast dreißig Jahre. Ende der 1970er Jahre hatte
                  ich als Student einen Job am Theater (Kulissenschieber) und ein Theaterstück
                  geschrieben. Auch wenn das Stück nie aufgeführt worden ist, hatte ich
                  mir vorgestellt, dass ich beim Schlussapplaus allein auf der hell
                  ausgeleuchteten Bühne
                  ein perfektes Ziel für einen Anschlag wäre (da
                  auch nachzulesen). Der ursprüngliche Kern, aus
                  dem der Roman „AmorLauf“ wachsen sollte, der Ausgangssatz war die
                  Frage: „Wie komme ich in diesen Körper?“ Natürlich in der mehrfachen
                  Bedeutung zu verstehen: Wie bin ich Mensch geworden, inkarniert und
                  später womöglich reinkarniert worden, also die theologisch, philosophisch, vielleicht auch biologisch zu
                  begreifende Frage. Andererseits der männliche Wunsch des Protagonisten
                  Eberhard, eine seiner Schülerinnen zu penetrieren. Gleichzeitig ist es
                  auch der Ausdruck des Wunsches, sich in den anderen, die andere
                  hineinzuversetzen, in seine/ihre Haut zu schlüpfen. Die erste Seite des ursprünglichen MS:Wie komme ich in diesen Körper? Slanky. Tall. Sexy. Ich
                  habe sie oft gesehen, oft angesehen. Mit einem Blick, der sich nicht gehörte,
                  der mir nicht gehörte. Aber wem gehörte der unerhörte Blick, der unerhörte
                  Anblick?
 Ich sehe sie im Spiegel und es sind meine Augen, die sie sehen. Wenn meine
                  Augen es sind, die das Spiegelbild sehen, dann sind es meine Augen, die
                  mich sehen. Meine Augen sehen, aber ihre Augen sehen abenteuerlich,
                  verwegen, verzweifelt aus. Ich stehe vor dem großen Spiegel im Flur und
                  schaue meinem Spiegelbild in die Augen, aber mein Spiegelbild bin nicht
                  ich, mein Spiegelbild ist sie, und meine Augen, die sehen, sind ihre
                  Augen, die mich so ansehen, wie ich mich nie ansehen könnte. Die langen
                  Wimpern sind nicht meine Wimpern, der stringscharfe Brauenstrich liegt so
                  viele Leben, so viele Schmerzen, von meinem grau und lang wuchernden
                  Wolfenwald entfernt, dass man kaum vermuten mag, es handele sich um etwas
                  physiologisch, anatomisch Gleiches. Mein blutleerer, schmaler Hautlappen,
                  von Bartstoppeln umrandet, schlechte Zähne schlecht verbergend, blitzt
                  rot und blutwurstprall über Zähnen, die alle Reiß- und Schneidezähne
                  zu sein scheinen.
 Wie komme ich zu diesem Spiegelbild? Und: In welchem Verhältnis steht
                  dieses Spiegelbild zu mir? Was sieht sie in mir? Ist sie so entsetzt wie
                  ich? Sie müsste vor Entsetzen so alt aussehen wie ich, wenn ich nicht
                  schon so aussähe.
 Wie komme ich in diesen Körper?
 Das ist der Anfang. Wovon? I don’t know;-) Stand 22.03.2009
 Grundlage: Austers Man in the Dark, also Parallelwelten. Ein
                  offensichtlich aktuelles Thema. Inkworld etc.
 Naheliegend für mich Schule mit reinzubringen, Schülerin (jung, hübsch),
                  Lehrer (alt, verbiestert, ausgepowert)
 Der erste Satz tatsächlich: Wie komme ich in diesen Körper? und
                  gleich in der Doppelbedeutung, Rollentausch bzw Penetration
 Nicht
                  alles
                  davon hat es in den ersten Entwurf geschafft. Einiges ist jedoch im
                  mittleren der drei Roman-Teile verwendet worden. Der
                  erste Tagebucheintrag ist vom  2009-03-23:Es kann sein, dass ich gestern was angefangen habe. Eine Story vielleicht,
                  eine Erzählung, ein Roman? Ich weiß es nicht. Auster ist schuld, sein
                  Man in the Dark, Parallelwelten, einfach genial gemacht. Ich möchte etwas
                  Ähnliches probieren und meine beiden Protagonisten (Lehrer, Schülerin)
                  ineinander übergehen lassen und auf einen Alternativtrip durch die
                  deutsche Geschichte, Teile der deutschen Geschichte schicken. Gewalt,
                  Amoklauf wird vorkommen, aber ich hoffe, ich krieg das so hin wie Auster,
                  dass es in einer vielfach gebrochenen Erzählweise geschieht und somit von
                  einer sehr literarischen, womöglich romantischen Art ist.
 Die Schule des AmokläufersEin Bildungsroman
 Begonnen am 22.03.2009
 Kapitel 1 beendet am 29.03.2009
 Und so fing es dann an:„Der Handelnde ist immer gewissenlos; es hat niemand Gewissen als der
                  Betrachtende“ schreibt Goethe in seinen „Maximen und Reflexionen“.
                  Der Handelnde und der Betrachtende. Gewissen und Gewissenlosigkeit.
                  Gegenseitige Bedingung und Rollentausch. Durchdringung und Penetration.
                  Eindringen und handeln, denkt er und betritt das Schulgelände. Der
                  Schulhof ist leer und sogar sauber. Frei von Anzeichen einer invasiven
                  Aspergillose, fatal invasion. Nichts regt sich hinter den
                  dunklen Fensterscheiben, kein Papier fliegt durch die Luft, kein Speichel
                  in hohem Boden heraus, kein Laut dringt nach draußen. Stille, dünne
                  Luft, vom Ruf der Amsel zersägt, die mit ihrem Zwitschern verzweifelt
                  gegen den Klingelton des Hausmeisterhandys ihr
                  Revier zu verteidigen versucht.
 2009-03-28:Mit meiner Story komme ich zumindest so weiter, dass es jetzt wohl auf
                  zwei Parallelwelten hinauslaufen wird, vielleicht auch drei. Die eine,
                  unsere Jetztzeit, mit der die Geschichte anfängt, entpuppt sich als
                  Fiktion, denn die Geschichte ist anders gelaufen. 1977, zum Zeitpunkt der
                  Nachrichtensperre in Sachen RAF, fängt die „wirkliche“ Geschichte an
                  anders zu laufen. Die RAF gewinnt die Oberhand und es gibt 1990 die
                  Wiedervereinigung, aber hier wird die BRD der DDR angeschlossen, die
                  bundesdeutschen Länder erhalten neue Namen, sowie einige westdeutsche Städte.
                  Trier wird Karl-Marx-Stadt, Chemnitz, von 1953 bis 1990 KMS, wird zu
                  Kamjenica, das ist der slawische Name. Schauen wir mal;-)
 2009-03-29:Das erste Kapitel ist fertig. 1963 Wörter. Ein guter Auftakt, eine gute
                  Expo, in der alle Motive enthalten sind und der hoffentlich auch als
                  spannend empfunden wird. Neben den Aspekten Parallel-, Spiegelwelten, DDR-
                  und RAF-Geschichte und der aktuellen Diskussion um Schule und Gewalt
                  (Amokläufe von Schülern), bin ich, zufällig wie immer, lesend auf
                  Zitate gestoßen (Goethe, Kant, Sloterdijk), die perfekt ins Thema passen
                  und ein wichtiges Motiv sein werden: „Der Handelnde ist immer
                  gewissenlos; es hat niemand Gewissen als der Betrachtende,“
                  kategorischer Imperativ usw. Dieses Gerüst ist so stabil, dass ich schon
                  nach sechs Tagen zu behaupten wage, das wird ein Roman. Gestern war ein
                  Tag mit über 1000 Wörtern, und da ich das erste Kapitel fertig hab,
                  genug Stoff für das nächste, kann ich beruhigt nach London fliegen.
 2009-04-11:Nach längerer Pause habe ich gestern wieder angefangen – und es ging
                  ganz ordentlich. Ein Titel ist mir auch eingefallen: Die Schule des Amokläufers
                  – Ein Bildungsroman. Ich will ihn durch die verschiedenen Klassenräume
                  laufen lassen (Bio, Physik, Erdkunde usw) und dabei auch über
                  Bildungstheorien reflektieren lassen. Ich denke, das reicht dann wirklich
                  an Themen und Motiven. Zu 1977 habe ich Aktuelles in die Finger bekommen:
                  Das Wischnewski-Protokoll in der Vierteljahrszeitschrift für
                  Zeitgeschichte.
 2009-08-22:Tja, auch wenn es eigentlich nicht geht (viele Arbeitsstunden als Lehrer),
                  heute habe ich die Arbeit am MS wieder aufgenommen. Das mit dem Schreiben
                  hat sich angekündigt mit ziemlich intensivem Lesen, hauptsächlich Philip
                  Roth, der mich auch dazu bewegt hat, ein Null-Kapitel vorzuschieben. Ein
                  kurzes aus der Perspektive danach. Das ist eindeutig zur Entlastung da.
                  Wenn man weiß, wie es ausgeht, relativ glimpflich, dann lässt sich
                  leichter erzählen, wie es dazu gekommen ist, kommen konnte.
 Auch wenn erste Überlegungen
                  dahingingen, dass der Lehrer Eberhard tatsächlich Amok läuft, Schüler
                  erschießt, am Ende sich und die Schule in die Luft sprengt, habe ich bald
                  gemerkt, dass ich mir (und anderen) nicht einmal schreibend das antun
                  will. Also habe ich mir immer weitere Verschachtelungen ausgedacht. Und so fing das dann an:Praecox mit 60! So wird die Boulevardpresse titeln, stellte er sich vor.
                  Zu früh gekommen, zu früh sein Pulver verschossen. Aber Schlimmeres
                  verhindert. Nicht verhindert wurde später der fundamentale Widerspruch im
                  gleichen Blatt, dass etwas derartiges lange überfällig gewesen sei.
                  Endlich ein Lehrer, endlich mal ein alter Mann, der Amok läuft. Nicht
                  immer nur die jungen und zumeist islamistischen Spritzer. Diese
                  terroristische Einöde stank doch zum Himmel, stank nach immer gleicher
                  muslimisch-maskulin-juveniler Kompensation. Er kannte ihren Geruch, wenn
                  er es während des Unterrichts einmal nicht bis zur Lehrertoilette
                  schaffte. Testosteron mit Urin verdünnt.
 2009-12-19:Vor zwei Tagen hatte ich meinen letzten Schultag für dieses Jahr und
                  schon habe ich angefangen, an meiner work in progress zu arbeiten. Heute
                  drei Seiten geschrieben. Ich habe eine weitere Ebene dazu genommen. Eine
                  Kollegin erzählt von Eberhard und ihr, ich kann so meine Schulerfahrung
                  als auch meine Erfahrungen mit Frauen, die ihre Männer verlassen bzw. von
                  ihren Männern verlassen werden,
                  verarbeiten. Das macht das Bild hoffentlich runder und erklärt die sehr
                  verschachtelte, verspiegelte Fiktion. Es wär ja schön, wenn ich das nächstes
                  Jahr veröffentlichen könnte.
 Gleicher Tag, später: Weiter geschrieben, 1200 Wörter. Das ist ein guter
                  Tag!
 Nochmal später: Jetzt sind’s schon 1500 W.
 Die „weitere Ebene“ hat den
                  Romanstoff erst zu dem eigentlichen Roman gemacht. Dieser Rahmen, der
                  andere Blick, die Relativierung des fiktiven Geschehens (innerhalb eines
                  umfangreicheren fiktiven Geschehens ;-) setzte einen enormen Kreativitätsschub
                  frei. 2009-12-20:Das erste Kapitel Michelle habe ich fertig, wahrscheinlich werde ich noch
                  weiter dran arbeiten, aber die Länge mit 1600 Wörtern (6 Seiten) kommt
                  hin. Meine derzeitige Planung sieht vor, in der Mitte und am Ende je ein
                  weiteres Kapitel aus ihrer Sicht (1. Person) zu bringen. Das relativiert
                  und verankert das andere Geschehen besser. Ich habe damit ähnlich wie bei
                  dem Roman „Die Grenze, der Strom und das Drama“ (2009 neu aufgelegt
                  unter dem Titel Transit Wirklichkeit) mehrere Ebenen, und ich kann an
                  verschiedenen Stellen arbeiten. Insgesamt sind es jetzt 32 Seiten, sagen
                  wir ein Zehntel.
 Das
                  erste Mal sah ich ihn auf dem Gang vor dem Lehrerzimmer, er kam nicht
                  gleich auf mich zu, wie es sonst üblich war unter Kollegen, um sich
                  miteinander bekannt zu machen, sondern nickte nur leicht, murmelte etwas,
                  das wie „Hi“ klang, kratzte sich am Kopf und ging weiter. Noch war das
                  erhebende Gefühl nicht verflogen, mit dem ich die begeisterte Klasse in
                  die Pause entlassen hatte. Der Versuch einer simulierten Kettenreaktion
                  mit rund einhundert Mausefallen hatte prima geklappt. Wir hatten sie
                  zusammen gespannt und auf dem Boden so arrangiert, dass der berühmte
                  kleine Funke in Form eines Tischtennisballes genügte, um das Feuerwerk
                  der Kettenreaktion zu entfachen und eine Mausefalle nach der anderen sich
                  zuschnappend entspannen und tanzen zu lassen. Der sprichwörtliche Flügelschlag
                  eines Schmetterlings, der damit am anderen Ende des Globus einen Orkan
                  auslöste, ist zwar als mathematische Operation leicht durchführbar, war
                  aber in Wirklichkeit kaum mehr als ein Ammenmärchen. /span> Dies ist die Expositions-Version
                  der ersten kompletten Textfassung (mit späteren
                  Ergänzungen, siehe Eintrag vom 26. April 2010). Der Einstieg ist wieder
                  Auster geschuldet, der "Invisible" so anfängt: "I shook his
                  hands for the first time in the spring of 1967." Die Lektüre dieses
                  einfachen Satzes reichte aus, mich sofort an den PC zu treiben und meinem
                  Roman eine völlig neue Wendung zu geben. Ich habe an anderen Stellen
                  wiederholt bekundet, wie eng Lesen und Schreiben für mich
                  zusammenhängen. Es kommt immer wieder vor, dass ich mich hinsetze und
                  einen Roman oder ein Sachbuch lese, eine inspirierende Stelle finde, an
                  den PC gehe, ihn anschalte, notiere, ausschalte, weiterlese, wieder
                  aufstehe, PC an, notieren, ausschalten, lesen, anschalten, notieren,
                  ausschalten, lesen. 2009-12-21:Wahrscheinlich werde ich den Prolog „Praecox mit 60“ zurücksetzen an
                  die zweite Stelle. Was ich gestern geschrieben habe, Kollegin Michelle,
                  nehme ich an den Anfang. Das Kapitel ist erheblich freundlicher und nicht
                  so schockierend in der Formulierung. Außerdem ist das so der bessere Übergang
                  zu den Eberhard-Passagen in der dritten Person.
   © KD Regenbrecht 2018Hier
                  geht es weiter zum zweiten Teil.
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