|  Ein feiner, in Holz gefasster, zylindrischer Graphitstab
                                seismografiert meine Hirnströme per inervierter Hand auf ein Blatt
                                Papier, ein weißes Blatt Papier übrigens, das mir keine Angst macht;
                                mir machen ganz andere Sachen Angst. Die seismografische Linie wird
                                mehrfach umgesetzt, transponiert. Das Auge des Lesers tastet die
                                seismografierte, ramponierte Aufzeichnung ab und gräbt damit die
                                entsprechenden Linien im Hirn ein, die den Film vorführen, die Platte
                                abspielen; das tamponierte Hirn. Ich kann einem von der europäischen Zivilisation völlig unbeleckten
                                brasilianischen Urwaldindianer "Szenen einer Ehe" von Ingmar
                                Bergman in der Originalversion vorführen. Ich kann einem
                                analphabetischen Mitteleuropäer chinesische Schriftzeichen zeigen. Ich
                                kann einem hick-town-Texaner balinesische Agung-Musik vorspielen. Ich
                                kann einer Thaitouristentunte einen Picasso der blauen Periode
                                vorhalten. In allen vier Hirnen wird etwas vor sich gehen. Auch wenn sie alle
                                vier nichts verstehen, nach eigener Aussage nichts damit anfangen können.
                                Sie verfügen über eigene Versionen, auch wenn sie selbst kein
                                Vertrauen in ihre Visionen haben. Es wird Unterschiede darin geben, was verschiedene Individuen aus
                                verschiedenen Kulturkreisen mit Kulturgütern fremder Kulturen anfangen.
                                Die Europäer haben sich darin am wenigsten rühmlich hervorgetan.
                                Dennoch glaube ich, die Unterschiede sind nur gradueller und nicht
                                prinzipieller Natur. Ich glaube auch nicht, dass es jemals möglich sein wird, ohne
                                Reibungsverluste von einem Medium ins andere zu wechseln. Es macht einen
                                Unterschied, ob ich die C-Dur-Tonleiter auf Papier schreibe, was nicht
                                gleichbedeutend ist mit dem Papier einer Banknote, auf einem Klavier
                                spiele, mit Buchstaben benenne, in eine Farbsequenz umsetze, auf CD
                                aufnehme, auf Film belichte, den Klavierspieler filme oder einen Roman
                                über die Klavierspielerin schreibe, das Notenblatt filme, den ganzen
                                Vorgang digitalisiere, vor- und zurücklaufen lasse, per Computer phase,
                                codiere ... Daraus folgt eindeutig, die Zeichen haben über das Bezeichnete
                                hinaus eine eigene Qualität und Wertigkeit, so wie das Bezeichnete
                                immer mehr/anders ist als das Zeichen. Preisauszeichnung im Handel wird
                                dreigeteilt appliziert, um dem Etikettenschwindel vorzubeugen. Die
                                Preisangabe 1,89 DM kann vielen und sehr unterschiedlichen Waren
                                glaubhaft angeheftet werden, so wie "Liebe" auf sehr
                                unterschiedliche Artikel geklebt werden kann. Deshalb wird es nie möglich sein, die Literatur, dieses Buch durch
                                ein anderes zu ersetzen. Daraus folgt umgekehrt: Wer heute noch einen
                                Roman schreibt, der sich ohne weiteres verfilmen lässt, sollte lieber
                                gleich ein Drehbuch schreiben und nach dem Film das Buch zum Film mit
                                vielen schönen, bunten Bildern vorlegen, das heißt nachreichen, um
                                sich nachträglich zu bereichern. Bleiben wir in Berlin, wo wir doch gar nicht sind. Ganz im Ernst, wo
                                bist du, wenn du im Zoologischen Garten bist? Bist du dann noch in
                                Berlin? Ist ein Elefant ein Elefant, wenn er unweit des Brandenburger
                                Tores sein Häufchen macht? Und was ist mit den Dinosauriern? Wie kommen
                                die Skelette hierher? Was soll das heißen, die Dinosaurier sind
                                ausgestorben? "Whodunit?", das ist hier mal wieder die Frage, der ich
                                armer Hund schnüffelnd nachgehen muss. Ich werde diese verdammte Aufklärungsarbeit
                                leisten müssen im vollen Bewusstsein, dass dieser gottverdammte Genozid
                                nie aufgeklärt wird. Schon gar nicht von mir und schon gar nicht mit
                                einer solchen Assistentin! Es war gegen elf Uhr, Anfang August 1989, ein Tag ohne Sonne und mit
                                klarer Sicht bis zur Mauer. In der Nacht war ein fürchterliches
                                Gewitter in den Viermächteluftraum über Berlin eingedrungen und auf
                                die geteilte Stadt hernieder gegangen. Ich trug meine verwaschene und an den Oberschenkeln aufgescheuerte
                                501, schwarze Cowboystiefel, ein schwarzes T-Shirt und eine hellbraune
                                Schweinslederjacke. Ich hatte mich nicht mehr rasiert, seit ich in
                                Berlin angekommen war, war aber frisch geduscht und hatte mich
                                ausnahmsweise parfümiert. Ich war völlig nüchtern und sah genauso
                                aus, wie ich mir mich selbst als aufstrebenden Nachwuchsschriftsteller
                                vorstellte. Mich erwartete die Fünftausendmarkstory. Das Museum in der Invalidenstraße, den Straßennamen
                                muss man wohl
                                als Omen nehmen, Nähe Charité war drei Stockwerke hoch. Über den Türflügeln,
                                die einen Trupp vorsintflutlicher Dinosaurier durchgelassen hätten,
                                war auf einem breiten, bunten Glasfenster ein Motorradfahrer in dunklem
                                Lederkombi bei der Befreiung einer Frau zu sehen, die an einen
                                Laternenpfahl gefesselt war und praktischerweise außer ihrem langen
                                Haar nichts trug. Der Motorradfahrer hatte kontaktfreudig sein Visier hochgeklappt und
                                fummelte an den Stricken herum, mit denen die Dame an den Pfahl gezurrt
                                war. Aber er kam nicht zu Rande. Ich stand da und überlegte, dass ich,
                                wenn ich noch öfter nach Berlin kam und die Entspannung etwas weiter
                                fortgeschritten war, früher oder später hinaufklettern und ihm zur
                                Hand gehen müsste, denn so richtig Mühe schien sich der sozialistische
                                Bruder nicht zu geben. Hinter den Glastüren an der Rückseite des Baues erstreckte sich
                                eine weite smaragdene Rasenfläche bis hin zu einem HO-Restaurant, vor
                                dem eine Menge junges Volk lungerte. Das auch schon für Ost-Berlin Übliche:
                                Skateboards, Walkmen, Mofas, Dosen. Vor dem Restaurant standen ganz in
                                der Tradition des sozialistischen Realismus dekorativ ein paar
                                Kunststoffbäumchen umher, sauber gestutzt wie Pudelhunde. Dahinter ein
                                großes Treibhaus mit Kuppeldach. Dann wieder Bäume und Rasen und
                                hinter all dem die soliden, geraden, betonierten Konturen der Mauer, die
                                von dieser Seite einen kaum erhebenderen Eindruck machen konnte, auch
                                wenn sie doch ganz anders wirkte. An der Ostseite des Schlosses führte eine fliesenbelegte Freitreppe
                                hinauf zu einer Galerie mit schmiedeeisernem Geländer und einem
                                weiteren Prachtstück bunter Glasfensterherrlichkeit. An den freien
                                Wandflächen standen überall große, harte Stühle mit runden, roten Plüschsitzen.
                                Sie sahen so aus, als hätten nach Friedrich dem Großen sämtliche
                                Mitglieder der Volkskammer einmal darauf Platz genommen. In der Mitte der Westwand war ein großer leerer Kamin mit einer aus
                                vier Scharnierflügeln bestehenden Messingverkleidung, und über dem
                                Kamin ein marmorner Sims mit Armoretten an den Enden. Über dem Sims
                                befand sich ein großes Ölporträt, und über dem Portal hingen
                                gekreuzt zwei sauber präparierte Unterschenkelknochen eines nicht
                                ausgewachsenen Brontosaurus in einem Rahmen. Auf der Malerei sah man
                                einen Struthiominus, der gerade in ein erbeutetes Ei beißen wollte.
                                Leider trug ich meinen Salzstreuer nicht bei mir. Das Tier hatte einen
                                Hals wie eine Blindschleiche, Froschschenkel, rote Flecken auf dem Rücken
                                und den langen, breiten Schwanz. Hier war ich mit dem Herrn Professor
                                verabredet. Es war aber nicht der Professor, der kam, es war eine junge Frau. Sie
                                war wohl Anfang dreißig, klein und schnuckelig ausstaffiert. Sie machte
                                ganz den Eindruck, als sei sie so assimilationsfähig geworden,
                                jederzeit zwischen den ausgestellten, urtümlichen Museumsstücken irrtümlich
                                zu verschwinden. Sie ging, als würden ihre Gelenke von Kupferdraht und
                                Stahlnägeln gehalten. Sie trug schwarzes, mit naturgrauen Strähnen
                                durchsetztes, langes Haar, das sie in einem zotigen Knopf, Quatsch!, in
                                einem knotigen Zopf aufgesteckt hatte, was sie erheblich älter wirken
                                ließ. Ihre Augen waren felsgrau und wirkten wie eingesetzte, leblose
                                Glaskörper. Sie kam auf mich zu, lächelte und zeigte dabei ihre von
                                einer Spange gehaltenen Zahnreihen. Sie war nicht geschminkt, hatte aber
                                eine unglaublich glatte, fast wächserne Haut. "Sind Sie aber jung!", begrüßte sie mich mit ihrer
                                frechen Berliner Schnauze. "Das sieht nur so aus, wahrscheinlich bin ich älter als Sie.
                                Ich bin neununddreißig." Ich war mir sicher, dass sie jetzt
                                kleinlauter wurde. Und tatsächlich, eine leichte Röte stieg in das Stearin ihrer
                                Wangen; damit hatte sie nicht gerechnet. Und ich hatte nicht damit
                                gerechnet, dass eine promovierte DDR-Paläontologin, die auch genauso
                                aussah, mich wie ein Sexmonster taxierte, um mein Skelett hinterher
                                ihrer Sammlung fossiler, verflossener Lover hinzuzufügen. "Und gut sehen Sie aus", sagte sie. "Für einen
                                Schriftsteller, meine ich." So ein Biest; ich brummte, konnte aber nichts Eindeutiges
                                artikulieren. "Wie heißen Sie?" "Rotzner", sagte ich, "Karl-Dorian
                                Rotzner. Meine
                                Freunde nennen mich Kado." "Ist das aber ein ulkiger Name. Ich heiße Rose, einfach Rose,
                                das muss genügen." Sie ließ das Metall ihrer Spangen blitzen wie die Giftschlange das
                                Gold in ihrem Maul. Wahrscheinlich trug sie ein Korsett aus
                                Dinosaurierknochen. "Sag mal, Mädchen, was soll ..." "Halt die Luft an, Knabe! Ich bin hier die promovierte Paläontologin,
                                die 1971 als Studentin bei der berühmten Mongoleiexpedition der Dr.
                                Zofia Kielan-Zaworowska aus Polen dabei war. Du bist der unbekannte
                                Schreiberling aus dem Westen, der von der versierten Fachfrau etwas
                                erfahren will, also benimmst du dich besser. Du könntest ja nicht
                                einmal den Knochen eines degenerierten, mit Medikamenten vollgestopften
                                Hähnchens vom sichelförmigen Klauenknochen eines Deinonychus
                                unterscheiden." "Dafür kann ich aber auf den ersten Blick eine sympathische
                                Mitarbeiterin von einer klugscheißerischen, Zahnspange und Korsett
                                tragenden Giftschlange ..." "Schnauze, Wessi. Wir machen uns jetzt auf den Weg in die
                                Rockies nach Montana." Das konnte ja heiter werden, was sollte ich sagen? Ich selbst hatte
                                mich ihr auf Verdeih und Gederb ausgeliefert. Sie saß neben der Landstraße und beobachtete wie der Jeep langsam
                                den Hügel hinab zu ihr hinunter rollte, und Rose dachte, ich bin aus
                                Berlin gekommen, ein behaustes Skelett. Den ganzen Weg von Berlin mit
                                dem Flugzeug, dem Greyhound, dem Jeep, zu Fuß. Ein behaustes Skelett.
                                Mit dem Kleid der Behausung aus dem Haus der Bekleidung. Sie dachte, obwohl ich noch gar nicht so lange hier bin, bin ich
                                schon in Montana, so weit weg von Zuhause. Der Hügel sah aus wie der
                                vergrößerte Erdaufwurf beim Baseball. Rose faltete die Zeitung
                                zusammen, stopfte sie in ihren kleinen, ledernen Rucksack, stieg in den
                                Jeep ein, ohne sich um mich zu kümmern. Sie sah müde aus. In der Zeitung hatte ich gelesen, dass amerikanische Wissenschaftler
                                den bisher ältesten Dinosaurier der Welt gefunden hatten. Der
                                Herrera-Saurus, der in Austin, Texas, vorgestellt wurde, hatte in etwa
                                die Größe und das Gewicht eines heutigen Schwergewichtsboxers. Der
                                Herrera stand auf den Hinterbeinen wie auch unser Deinonychus, verfügte
                                über krallenbewehrte Vorderextremitäten, mit denen er seine Beute
                                schlug. Langsam und unter heftigsten Stößen bewegte sich das Geländefahrzeug,
                                das auch als Schlafgelegenheit diente, zu unserem Fundort. Was für Tiere waren die Dinosaurier, was ist mit ihnen geschehen?
                                Warum waren die Dinosaurier so völlig anders als alle anderen Tiere?
                                Wie lebten sie überhaupt? Warum waren so viele von ihnen teilweise
                                unglaublich groß? Größer als der Tyrannosaurus waren die Supersaurier
                                Brontosaurus und Brachiosaurus mit mehr als mannsgroßen Schulterblättern.
                                Hörten sie einfach nicht auf zu wachsen? Wie lange brauchten sie, um so
                                groß zu werden? Wie konnten sich die Riesenviecher überhaupt bewegen?
                                Wie fanden sie genug zu fressen, um sich am Leben zu erhalten? Wir
                                wissen es nicht. Und das größte Geheimnis: Warum starb die fast unüberschaubar
                                vielfältige Familie der Dinosaurier so urplötzlich aus? Mit fast jedem
                                neuen Skelettfund kommt auch eine neue Theorie über den Untergang ans
                                Tageslicht. Klimaveränderung, Seuchen, aussterbende Futterpflanzen
                                durch veränderte Sonneneinstrahlung, Meteoriteneinschlag und und und. Dabei lassen die fossilen Funde erstaunliche Rückschlüsse auf Leben
                                und Gewohnheiten zu. Und eigentlich stimmt es auch gar nicht, dass die
                                Dinosaurier völlig ausgestorben seien. Unsere heutigen Vögel sind
                                offensichtlich direkte Nachfahren der zweifüßigen, warmblütigen
                                Dinosaurier-Arten, wie Ornitholestes oder der ganz frühe
                                Heterodontosaurus; auch unser Deinonychus, dessen Fundort wir uns näherten,
                                gehört dazu. Sicher, Rose war keine Schönheit, und sie war noch weniger das, was
                                man eine auskunftsfreudige Dozentin hätte nennen können. Selbst auf höflichste
                                wie hartnäckigste Fragen gab sie nur widerwillig Antwort. Aber ich
                                hatte Gelegenheit, sie zu beobachten im Gelände, bei den Ausgrabungen.
                                Hatte ich sie im Museum selbst als Ausstellungsstück empfunden,
                                wandelte sie sich hier draußen im Ödland in der Nähe von Billings in
                                einen warmblütigen, flinken Räuber (velociraptor), trotz ihrer Spangen
                                in einen winzigen compsognathus (= eleganter Kiefer) oder in einen
                                Deinonychus, was fürchterliche Klaue bedeutet und sich nicht auf die
                                Handschrift bezieht. Der Hügel war mir sofort aufgefallen. Waren die umliegenden Hügel
                                von graugrüner Erdfärbung mit Felsen übersät und oft mit
                                scharfkantigen Graten, so war unser Hügel ringförmig rot gefärbt, von
                                Orange über Ocker bis ins Violette und hatte eine gleichmäßig runde
                                Kuppe. Von der abgeflachten Spitze zogen sich immer stärker verästelnde
                                Wasserrinnen herab, daß man fast auf eine umgekehrte Fließrichtung des
                                Wassers hätte schließen müssen. Folgerichtig fühlte ich mich zu dieser eher abstoßenden Forscherin
                                hingezogen. Sie, die mir hätte Auskunft erteilen sollen, erteilte mir
                                eine von mir gänzlich unerwartete Lektion. Konzentriert scharrte sie im
                                Erdreich, bürstete, kratzte, küsste und liebkoste die alten,
                                verwitterten Knochen - leider nicht meinen - und unterzog mich dabei
                                einer geradezu inquisitorischen Demontage. Ich hätte soviel Zukunft wie
                                ein Dinosaurier, der doch wenigstens, im Gegensatz zu mir, eine
                                Vergangenheit vorzuweisen habe. "Schau mal hier, Kado! Ist der nicht toll?" Mein Enthusiasmus über abgenagte Knochen hielt sich nach wie vor in
                                Grenzen. Wie die Entdeckerin eines verlorenen Schatzes hielt Rose
                                triumphierend und behutsam, ja zärtlich zugleich einen Fingerknochen
                                hoch; kaum größer als ihr eigener. Wir knieten uns wieder hin und
                                suchten weiter. Nach und nach legten wir mehrere Fingerknochen frei, dann ein Paar
                                großer, scharfer Krallen. "Da hat wohl schon eine Kollegin vor dir gesucht und über der
                                Suche das Essen vergessen." Schließlich kamen die übrigen Knochen einer mächtigen,
                                dreifingrigen Greifhand zum Vorschein. Dicht daneben gruben wir die
                                vollständig erhaltenen Knochen eines Fußes aus. Da bereits scharfe, gezackte Zähne gefunden worden waren, blieb kaum
                                ein Zweifel daran, bei unserem Deinonychus handelte es sich um einen
                                Fleischfresser, und seine Skelettstruktur wies darauf hin, das er zur
                                Untergattung der Theropoden, gleich Raubtierfüße, gehörte. "Unser Deino", wie Rose den Zweibeiner stets nannte,
                                "war wohl nur wenig schwerer als du, Kado. Bei ungefähr 65
                                Kilogramm Gewicht und einer Gesamtlänge Schnauze über Schwanzende von
                                zwei einhalb Metern erreichte er aufrecht die Höhe von einem Meter
                                zwanzig. Er lief genau wie der amerikanische Road-Runner, der
                                afrikanische Sekretär oder der Strauß auf den beiden Hinterbeinen und
                                war flugunfähig. Interessant ist auch der Schwanz, der den zweibeinigen
                                Stand stabilisierte. Außerdem war dieser verhältnismäßig lange
                                Schwanz ein äußerst effektiver Fortsatz, der die Balance erleichterte
                                und wie bei einer Katze oder einem Eichhörnchen Steuerung ermöglichte." Den unpassenden Ausfall gegen die "äußerst uneffektiven Fortsätze"
                                der Männchen der menschlichen Rasse im allgemeinen klammere ich aus.
                                Mit kultischer Theatralik entfernte Rose Staubkorn um Staubkorn von dem
                                furchterregenden, sichelförmigen, mehr als sieben Zentimeter großen
                                Knochen. "Beim lebenden Tier bedeckten scharfe, gebogene und nagelartige
                                Scheiden die Klauenknochen, die fast dreizehn Zentimeter lang gewesen
                                sein müssen. Das waren perfekte Tötungswaffen, Kado. Du musst dir das
                                so vorstellen. Unser Deino hat seine Beute mit den vorderen Extremitäten
                                gekrallt und schlitzte dann die Flanken und den Bauch seiner Opfer mit
                                den rasiermesserscharfen Klauen auf, während er von einem Fuß auf den
                                anderen hüpfte und mit dem freien Fuß nach dem Beutetier oder
                                Angreifer trat. Eine solche Sprung-, Greif- und Schlitzattacke erfordert
                                hervorragende visuelle Fähigkeiten, Koordination zwischen den Extremitäten
                                und ein hochentwickeltes Balancegefühl." Ich fragte mich, ob sich Rose auch dann für unseren Deino so
                                begeistert hätte, wenn dieses Viech nicht ausgestorben wäre und
                                vielleicht kleine Kinder attackierte oder Liebespaare, die gezwungen
                                waren, in einem Jeep zu übernachten. Aber Rose hatte weder für Kinder
                                noch für Liebespaare etwas übrig. Unser Goldgräberurlaub in Montana ging dem Ende zu, als schließlich
                                der Rest unserer Ausrüstung eintraf, samt komfortablem Zelt. Das Zelt
                                war ein Spitzenprodukt eines westdeutschen Trekking- und
                                Adventurespezialisten, von dem wir es umsonst bekommen hatten, um es zu
                                testen. Wir hielten uns zunächst sklavisch an die Aufbauanleitung, breiteten
                                den Boden des Innenzeltes auf dem "möglichst glatten und
                                sauberen" Montanauntergrund aus. "Stecken Sie nun die Heringe durch die am Innenzelt befindlichen
                                Ösen in den Boden", las Rose vor, und ich trat an, die Heringe in
                                den Montanafels zu treiben. Ich schaffte es einen Zentimeter weit, aber
                                das hatte genügt, um aus den Heringen Hakennägel zu machen, mich
                                zwischen den Zeltschnüren zu verfangen, und beinahe wäre ich so
                                verpackt den sanften Montanahügel hinabgerollt, als Zeltmumie in
                                irgendeinem Creek gelandet, der mich zum Mississippi mitgenommen hätte. Rose wühlte in den Grabungsutensilien und danach hatte der
                                Montanafels keine Chance mehr. Mit einem Vorschlaghammer hieb sie Pflöcke
                                in Grund und Boden, und keine Elefantenherde hätte sie je wieder
                                herausbekommen. "Fügen Sie nun die zwei Satz Fiberglasgestänge zusammen und führen
                                Sie es diagonal durch die Tunnelführung am Innenzelt am Gestänge auf,
                                beziehungsweise hängen Sie das Innenzelt am Gestänge auf", befahl
                                ich, und jeder griff sich ein Gestänge. Hatte man die Gelenke
                                zusammenschnappen lassen, waren die Biester verdammt lang und sehr
                                elastisch. Das entfernte Ende der Fiberglasstange in die Tunnelführung
                                am Innenzelt einzuführen, dazu fällt mir kein Vergleich ein, weil das
                                ja ohnehin eine Metapher ist für die Unmöglichkeit. Ohne Frage darf ich bei Rose böse Absicht vermuten, Fahrlässigkeit
                                allemal, jedenfalls stach die falsche Schlange mir mit dem Fiberglasgestänge
                                in meine "äußerst uneffektiven Fortsätze". Es war sicher
                                nicht fein, aber während ich zu Boden ging, habe ich ziemlich hart
                                meine Fiberglasstange durch ihr Gesicht gezogen. Das gab einen schönen,
                                roten Streifen auf ihrer Wachswange, es tröpfelte sogar ein Hauch Blut. Blutrot versank die Sonne beschämt hinter den Rockies, hinter denen
                                der Pazifik allem ein Ende setzte. Rose und ich lagen im Montanastaub,
                                in dem ganz andere Dramen begraben liegen. "Can I help you? - Wir wünschen Ihnen viel Freude mit Ihrem schönen
                                Zelt. - Are you German?" Der uns das gefragt hatte, war kein Deutscher, aber auch kein
                                Amerikaner. Er besaß unverwechselbar britischen Akzent, das war bei der
                                deutschen und der englischen Textstelle unüberhörbar. Hinter ihm kamen vier weitere, abgerissene Figuren den Hügel herab,
                                die nichts Gutes verhießen. Eine beschissenere Ausgangslage für ein
                                show-down konnte es gar nicht geben. Rose und ich lagen angeschlagen im
                                Dreck, der Englishman ragte vor uns in den Abendhimmel des Wilden
                                Westens, und wie in Zeitlupe und völlig geräuschlos kamen die vier
                                Desperados den Abhang von der unbefestigten Landstraße herunter. Ihr Auto, ein alter, verstaubter Caravan, hatten sie auf der Straße
                                mit offenen Türen stehen lassen. Sie waren ausgestiegen, um eine
                                Pinkelpause einzulegen; ich hatte das genau beobachten können. Erst
                                nachdem sie sich alle ausgepisst und die Reißverschlüsse hochgezogen
                                hatten, bemerkten sie uns am Boden Liegende. Ich sah Rose nach dem Vorschlaghammer greifen und blickte beschwörend
                                den Englishman an: "Hold it, hold it, wait a minute", und da kam auch schon
                                langsam und folgsam der Caravan hinter den Vieren den Hügel
                                hinabgepoltert. Nicht allzu schnell, der Hügel neigte sich nur
                                unmittelbar neben dem Feldweg abrupt, das Gefälle wurde dann aber immer
                                geringer und ging unmerklich in unseren ebenen Lagerplatz über. Obwohl die freie Fahrt des herrenlosen Fahrzeugs auch durch reichlich
                                herumliegendes Geröll gebremst wurde, schien es uns ratsam, zur Seite
                                zu springen. Die Karre rollte über das am Boden liegende Zelt und blieb
                                an einem größeren Felsblock endlich stehen. Der Englishman und seine
                                Desperados hampelten wild lamentierend um ihr schönes, nur leicht lädiertes
                                Auto herum. Die vier Desperados sprachen "gottverdammtes fucking Scheißauto"
                                deutsch und auf die verstaubte Heckklappe hatten sie mit dem Finger
                                "L.A. or bust" geschrieben. Weil es mittlerweile fast stockfinster war, beschlossen wir, alles
                                stehen und liegen zu lassen, machten ein gemütliches Lagerfeuer, und
                                unsere fünf Gäste, die von Ontario herüberkamen, wo sie als Tabakpflücker
                                gearbeitet hatten, waren bestens ausgerüstet mit Dosenbier
                                "Budweiser" und frischem Grillfleisch. Der Herrera-Saurus tauchte als erster auf dem Monitor auf. Wie bei
                                "Nase vorn" hüpfte er los und konnte es nicht weit bringen.
                                Unten im Monitor ein- und ausgeblendet die Zahl von 230 Millionen, die
                                sich digital auf den weiten Weg gegen Null machte und dabei nicht zu
                                sehr überziehen durfte, weil das die Zuschauer des Sportstudios erzürnt
                                hätte. Im oberen Bereich des Bildschirmes strahlte regenbogenfarbig das
                                Wort TRIAS. Es hüpften ins Bild und wieder hinaus nach unterschiedlich
                                langen Phasen der Heterodontosaurus, der Plateosaurus, der Coelophysis
                                und ganz kurz der Procompsoganthus. Ebenso im Trias erschienen der
                                Diplodocus, der Brontosaurus, der Allosaurus, der Megalosaurus und der
                                Brachiosaurus. Bei 195 Millionen wechselte TRIAS zu JURA mit Allosaurus, Stegosaurus,
                                Camptosaurus, Ornitholestes. 136 Millionen KREIDE: Hypsilodophon,
                                Iguanodon, Triceratops, Velociraptor, Protoceraptor und unser Deino,
                                Tarbosaurus, vermutlich Vorgänger unserer heutigen Turbosäue,
                                Ancylosaurus, Torosaurus, Corythosaurus, Tyrannosaurus, Anatosaurus, 65
                                Millionen: GAME OVER. Rose hatte ordentliche Nackenschmerzen vom Graben in gebückter
                                Haltung. Was sie denn ausziehen sollte, wollte sie von einem der
                                Desperados wissen, der sich bereit erklärt hatte, ihren Nacken zu
                                massieren. "Die Zahnspange kannst du anbehalten." Sie behielt sie an und revanchierte sich für die wohltuende
                                Nackenmassage, die sie unanständig stöhnend genoss, mit der
                                altbekannten Zweifingermassage (Daumen und Mittelfinger) des
                                uneffektiven Mister Y. Als die ganze Chose wie bei Bob Wilson in einen
                                blow-job ausartete, zogen auf allen umliegenden Hügelzinnen deutsche
                                Desperados auf, die jeder einen Caravan wie einen Hund mit sich führten. Die Desperados, die in allen deutschen Dialekten "gottverdammtes
                                fucking Scheisscar, bei Fuß!" radebrechten, trugen Cowboyhüte,
                                lange, weite Mäntel, die sie im Rücken zusammengesteckt hatten, um
                                einen schnelleren Zugriff "Zieh!" zum Revolver zu haben. So
                                stiefelten sie steif und bedrohlich auf uns zu, die wir in der Mitte um
                                unser Lagerfeuer zusammengetrieben und eingekesselt waren. Während sie
                                wie im Abfarcerennen auf uns zu stolperten, es war ja reichlich duster
                                und das Gelände unwegsam, man hörte sie mehr als man sie erkennen
                                konnte, wuchs wie hydraulisch betrieben unter uns aus dem Montanafels
                                eine breite, chinesische Berliner Mauer empor, die uns höher und höher
                                hob und uns vor allen nächtlichen Gefahren in Sicherheit brachte. Die deutschen Desperados "disappear!" verschwanden, dafür
                                waren auf beiden Seiten der Mauer zwei Frauenregimenter aufgezogen mit
                                ungeheuerlichen Geschützen. Wir sahen die Geschosse geräuschlos über
                                uns hinweghuschen, hörten sie dann kommen, die doch auf der anderen
                                Seite längst eingeschlagen waren. Über uns kreiste mit irrlichternden
                                Suchscheinwerfern ein Helicopter, der von Jupp gesteuert wurde. Als die
                                Amazonen ihr Überschallpulver verschossen hatten, begannen sie wie
                                wildgewordene Mauerspechte auf unsere Zuflucht einzuhacken. Rose brüllte
                                wie von Sinnen: "We are in love, fuck the war!" © by Klaus-Dieter
                                Regenbrecht, Koblenz 2009Aus "Transit Wirklichkeit"
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