Home
Jetzt bestellen bei
Amazon.de * Buchhandel.de * booklooker
Alle Rechte vorbehalten © All rights reserved by Klaus-Dieter Regenbrecht 1998 - 20
21

Datenschutz

 

Leseprobe 2 aus dem Roman "Transit Wirklichkeit"

Die ungarische Regierung hat Sonntag abend den mehr als 6000 Flüchtlingen im Land aus eigener Verantwortung und ohne Zustimmung Ost-Berlins die Ausreise in die Bundesrepublik erlaubt. Budapest gab damit den zum Teil schon seit Wochen ausharrenden DDR-Bürgern für Mitternacht grünes Licht für die Ausreise.

Die Regierung in Budapest wies ausdrücklich darauf hin, daß die Verhandlungen mit der DDR über eine Lösung der Flüchtlingsfrage zu keinem Resultat geführt hätten und die Lage an der Grenze unerträglich geworden sei. Die Ungarn setzten für ihren Schritt ein zweiseitiges Abkommen mir der DDR außer Kraft, das beiden Ländern bisher untersagte, Staatsbürger des jeweils anderen Landes ohne entsprechende Ausreisegenehmigung ihres Heimatlandes in den Westen ausreisen zu lassen.

Die Regierung ordnete an, daß die Grenzwachen von Mitternacht an alle DDR-Bürger an jedem gewünschten Grenzübergang ausreisen lassen. Wie es in Budapest hieß, sollen die Grenzen nach Österreich solange offen bleiben, bis die DDR-Bürger in aller Ruhe das Land verlassen haben.

Die bayerischen Sicherheits- und Verwaltungsbehörden rechneten am Abend mit einem Reisestrom von DDR-Bürgern aus Ungarn in Richtung Bayern schon unmittelbar nach Mitternacht. die individuelle Einreise in die Bundesrepublik mit bis zu 1000 Personenwagen, die die Flüchtlinge mitbringen, werde voraussichtlich nicht in Konvois erfolgen.

In Degendorf/Niederbayern standen Sonntag abend schon 40 Omnibusse des Bundesgrenzschutzes (BGS) bereit, die die am Hauptbahnhof Passau mit Zügen erwarteten Flüchtlinge – vermutlich 500 – sofort gleichmäßig auf alle Festunterkünfte und die fünf Zeltstädte im Freistaat verteilen sollten.

Bundeskanzler Helmut Kohl hat den Schritt der ungarischen Regierung zur Ausreise der DDR-Flüchtlinge als eine „Entscheidung der Menschlichkeit und der europäischen Solidarität“ begrüßt. Auf dem Presseabend am Rande des CDU-Parteitages in Bremen sagte er: „Ich bin sehr, sehr dankbar.“

Die Bundesregierung werde alles tun, um die Landsleute aus der DDR „herzlich aufzunehmen und ihnen Startchancen zu verschaffen.“ Er appelliere an alle Bundesbürger, im Rahmen ihrer Möglichkeiten dabei behilflich zu sein. Die DDR hat die ungarische Entscheidung zur Ausreise der DDR-Flüchtlinge verurteilt. Die amtliche Nachrichtenagentur ADN verbreitete Sonntag abend eine entsprechende „Mitteilung“. Darin hieß es, wie aus Ungarn verlaute, sei den sich in Ungarn „aufhaltenden DDR-Bürgern illegal und unter Verletzung völkerrechtlicher Verträge und Vereinbarungen in einer Nacht- und Nebelaktion die Ausreise in die BRD“ ermöglicht worden. Dabei handele es sich um eine direkte Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR.

Freudenschreie, Applaus, Jubel, Freudentränen und stumme Fassungslosigkeit, die ungarische Ausreisegenehmigung hat für die inzwischen mehr als 6000 DDR-Bürger in Ungarn am Sonntag abend in den Lagern in Budapest und am Plattensee beinahe unbeschreibliche Szenen ausgelöst.

Ab Montag, so die ersten Informationen, sollten denn auch die ersten Busse und Züge Richtung Westen rollen. Im Lager selbst ging diese Information fast unter. Zu groß war der Trubel. Kaum jemand kannte alle Einzelheiten. Noch eine halbe Stunde nach Bekanntgabe der Nachricht standen fragende Flüchtlinge in der Menge, die immer noch nicht wußten, was passiert war.

DDR-Führung immer tiefer in der Krise; Regierung tritt zurück. Fluchtwelle nimmt zu. In der DDR überschlagen sich die Ereignisse. Während immer mehr Menschen ihre Heimat verlassen, hat die Regierung unter Führung von Willi Stoph gestern abend ihren Rücktritt erklärt.

Herausragende Punkte der stürmischen Entwicklung waren: Der 45-köpfige Ministerrat trat gestern geschlossen zurück; er bleibt jedoch im Amt, bis die Volkskammer einen neuen Rat gewählt hat. Damit wurde die von Staats- und Parteichef Egon Krenz angekündigte umfassende Erneuerung der Führungsspitze überraschend schnell eingeleitet.

Die Regierung appellierte eindringlich an die DDR-Bürger, im Lande zu bleiben und sich redlich zu nähren. Die Fluchtwelle hält unvermindert an. Bis heute werden etwa 35.000 Übersiedler erwartet, die durch die CSSR einreisen; die Notunterkünfte in der Bundesrepublik sind überfüllt.

Das als bisher größter Reformvorschlag eingebrachte Reisegesetz ist selbst in der SED als untauglich durchgefallen. Selbst aus den Reihen der Einheitsgewerkschaft FDGB wird immer stärker Kritik an der Staatsführung laut. Der Verfassungs- und Rechtsausschuß forderte unverzüglich die Volkskammer einzuberufen. Der Vorsitzende des Ausschusses, Wolfgang Weichelt, forderte mehr Rechtssicherheit für die Bürger.

Um das Amt des Volkskammerpräsidenten bewerben sich erstmals zwei Kandidaten. Vor dem ZK-Gebäude in Ost-Berlin demonstrierten erstmals mehrere tausend Menschen. Sie forderten freie Wahlen und prangerten Wahlbetrug bei der Kommunalwahl an, der Egon Krenz zugeschrieben wird.

Die amtliche Nachrichtenagentur ADN verbreitete erstmals eine Erklärung der Oppositionsgruppe „Neues Forum“, in der ein Reisespaß für jeden DDR-Bürger gefordert wird.

Der Dresdener Bürgermeister Wolfgang Berghofer sagte in einem Interview, die DDR-Führung arbeite an einem neuen Wahlrecht, das die Wahl zwischen Kandidaten mehrerer Parteien zuläßt. Hohe SED-Funktionäre forderten die Einberufung eines Sonderparteitages der SED noch in diesem Jahr.

Krenz auf Reformkurs. Die einschneidenden Veränderungen in der DDR gehen weiter. Gestern wurde das Politbüro auf Reformkurs gebracht. Politiker aller Fraktionen des Bundestages forderten Ost-Berlin zu freien auf, wer immer sich freien ließe von diesen Freiern.

Die SED hat den immer lauter werdenden Ruf nach freien Wahlen in der DDR aufgegriffen und unter Arrest gesetzt. Das Politbüromitglied Günter Schabowski sagte am Abend auf einer Pressekonferenz, es werde ein Wahlgesetz geben, das allen selbstbewußten politischen Kräften ermöglichen werde, ihr Programm vorzustellen und sich an der Wahl zu beteiligen. „Dem wird sich die SED stellen.“

Mit dem Rücktritt des alten und der Wahl des neuen Politbüros hat die kommunistische SED entscheidende Weichen gestellt: Der Dresdener Reformpolitiker Hans Modrow (61), gehört jetzt nicht nur dem Politbüro an, sondern er wurde auch zum Ministerpräsidenten vorgeschlagen.

Das „Neue Forum“ ist auf dem Weg zur Zulassung.

Aus: Transit Wirklichkeit
© by Klaus-Dieter Regenbrecht 2009

Jetzt bestellen!