|  Neunter November 1989, West-Berlin:
 Sie hüpfte um mich herum, boxte mir in den Magen, zog meine Ohren lang,
                                sprang mir in den Rücken, biss mir in den Nacken, griff
                                mir, jawohl, genau dort hin!, als hätten mich nicht nur drei sondern mindestens
                                neun Shakespeare'sche Hexen zwischen den Klauen.
 Gudrun schaltete einen Gang zurück, rückte näher, näherte
                                sich mir, mir eingehakt und unter, unter Null war es ohnehin, hin und her zog
                                das Volk, denn das Volk sind wir, wir sind verliebt, verliebt bis über beide
                                Ohren, meine Herren, die Ohren wollten es kaum glauben, sie vernahmen es mit
                                Staunen, WAHNSINN hieß es fassungslos in jener unglaublichen Nacht, in der mich
                                keine zehn Teufel auf die Mauer gebracht hätten. Und natürlich bin ich Gudrun ohne ein Wort des
                                Widerspruchs auf den antifaschistischen Schutzwall gefolgt. Zuerst half ich ihr
                                per Baumleiterchen auf die Mauer. Einen Augenblick fühlte ich mich körperlich
                                ungeheuer stark; Gudrun ist halt ein Federgewicht. Sie setzte ihren rechten Fuß
                                in meine verschränkten Hände, sprang ab und streckte das Bein kraftvoll durch,
                                bis ich ihren Hosenlatz vor der Nase hatte. Ich hielt die Luft an, wagte nicht,
                                ein Näschen voll ihres Parfüms einzusaugen. Sie kletterte aber nicht gleich
                                weiter, sondern ließ sich gnädigst noch einmal zu mir hinab, sah mir in die
                                Augen:"Schalt jetzt alle deine Sinne ein, Winnelein. So etwas erlebst du in
                                diesem Leben nicht wieder."
 Sie küsste mich hastig, aber nicht hastig genug, um
                                mir nicht doch die vermeintlich ungeheueren körperlichen Kräfte zu rauben.
                                Denn während sie nun das Bein wieder durchdrückte, um die hilfreichen Hände
                                von oben zu ergreifen, knickten meine kraftlosen Knie ein, so dass Gudrun in
                                gleicher Höhe blieb."Hei, du Schlaffi! Mach dich mal ein bisschen steif, sonst kriegst du mich
                                nie hoch!"
 Ohne die Mauer im Rücken hätte ich es mit Gudrun in
                                meinen Händen nicht geschafft, mich aufzurichten. Kaum durchflutete mich das
                                nie erlebte Triumphgefühl nach sportlicher Höchstleistung, erlitt ich den nächsten
                                Knock-out. Gudrun hatte mich also geküsst. Den rechten Fuß hatte sie in meine verschränkten Hände
                                gesetzt, mit dem linken stand sie nach wie vor auf der Erde; Ost-Berliner Boden
                                übrigens. Mit ihrem linken Bein sprang sie zum zweiten Male ab und drückte das
                                rechte durch. Dann stellte sie ihr linkes Bein auf meine rechte Schulter. Bevor
                                sie jedoch das rechte Bein nachzog, um es auf meine linke Schulter zu stellen, führte
                                sie mit der rechten Schuhspitze eine leichte Kickbewegung aus. Ein Schlag mitten ins Kontor! Schneller als ich
                                zusammensackte, hatte sich Gudrun mit ihrem rechten Fuß von meinem Kopf abgedrückt
                                und hing an den helfenden Händen. Ich hockte im ostdeutschen Staub vorm
                                Brandenburger Tor."Was ist, Winne? Komm hoch, hier oben ist es herrlich!"
 Ich war wild entschlossen, mein Leben zu retten und
                                diesen unglückseligen Ort sofort zu verlassen, an dem mich nur weiteres Unheil
                                erwarten konnte. Bei dieser Kletterei konnte leicht einer tot bleiben, wie der
                                Volksmund treffend formuliert. Doch schon hatten mich drei düster
                                dreinblickende Punks gepackt, um mich schlaffen Sack auf die Mauer zu wuchten.
                                Aus dem homme de lettre war ein homme de clettre geworden. Und wie ich es befürchtet hatte, auf der Mauer fing es
                                an ungemütlich zu werden. Polizisten aus Ost und West mahnten zu Ruhe und
                                Besonnenheit. Die Typen auf der Mauer skandierten ziemlich aggressiv-blödes
                                Zeug. Die waren alle unter dreißig. Die waren alle neo-konservativ, wenn nicht
                                Schlimmeres. Auf der anderen Seite der Mauer tobten sie durch das Tor, liefen
                                Slalom durch die Säulen. Unfassbar, unfassbar, was da geschah. Frevel oder
                                Freiheit? Ich schäme mich nicht, es einzugestehen. Ich hatte Tränen
                                in den Augen. Auch Gudrun, sonst kalt wie eine Hundeschnauze, wurde sentimental.
                                Sie klammerte sich an mich, wurde an mich gedrückt in der wogenden,
                                schiebenden, stoßenden, grölenden Masse.  Auszug aus dem Roman"Transit Wirklichkeit"
 © by   kloy
                                2009
 Zurück
                                zum Zettelkasten  
 hier
                                können Sie bestellen  |